Verbrechen geschehen in Deutschland jeden Tag. Entführungen, Vergewaltigungen, Überfälle. So viele, dass ein Mord kaum noch groß in den Medien erwähnt wird; verschwundene Kinder mit möglichem Missbrauchshintergrund geben zur Zeit eine viel beliebtere Schlagzeile ab. Und dennoch machte im Juli 2001 ein Mord Schlagzeilen. Und war nicht nur, weil es sich um ein zweifelsohne besonders grausames Verbrechen gehandelt hatte. Vielmehr schien eine Rolle zu spielen, dass sich ein attraktives Label damit verbinden ließ: Satanistenmord.
Manuela „Alegra“ Ruda soll gemeinsam mit ihrem Ehemann Daniel einen Mann brutal ermordet haben. Um einen Menschen zu töten, reichen weniger als die 66 Stiche und Hammerschläge, die der Gerichtsmediziner zählte. Eine schreckliche Tat, die jedoch noch während die Polizei die Mörder suchte, eine andere Dimension erhielt: Die Berichterstattung in vielen Tageszeitungen und Rundfunknachrichten stellte nicht nur das Ehepaar Ruda unter Anklage, sondern traf indirekt eine ganze Szene.
Manuela Ruda trug schwarze Kleidung, hatte ihre Haare an den Seiten abrasiert und ließ sich in SM-Pose und mit antichristlichen Symbolen fotografieren. Ihr Erscheinungsbild war durch und durch gothic. Aber das war nicht alles: Das Ehepaar Ruda hatte nach Aussage von Zeugen die Wände ihrer Wohnung in Witten, in der dieser Mord geschah, schwarz gestrichen. Die Polizei fand nach eigenen Angaben einen Sarg, außerdem waren SS-Runen und Hakenkreuze an die Wände gemalt. Nach ihrer Ergreifung gaben die beiden Täter demnach an, Satan habe ihnen den Mord befohlen.
Schwarze Kleidung. SM-Posen. Hakenkreuze. Särge. Satan. Da war es wieder, das alte Bild der Katzen opfernden, Vampire liebenden, satanistischen Grufties. Fast hatten wir gedacht, die Zeiten seien vorbei, in denen wir nur unter Schwierigkeiten ein Gelände für unser Festival finden konnten, weil man in Gemeinden wie Karlsruhe-Durmersheim noch 1993 glaubte, die satanischen schwarzen Horden würden Friedhöfe entweihen und dort nachts schwarze Messen abhalten. In den letzten Jahren dachten wir, die allgemeine Akzeptanz unserer Kultur sei mit der wachsenden Popularität von Szene-Events wie dem WGT oder unseren Festivals gestiegen. Ein Irrtum, wie die Medienreaktion auf den Mord von Witten zeigt.
Die Tat bediente jedes Klischee, das der so genannte Normalbürger jemals von der Schwarzen Szene hatte. Und daraufhin ging es nicht mehr darum, dass zwei Menschen einen anderen grausam getötet hatten. Die Bildzeitung berichtete wochenlang über den “Satanistenmord“, Fernseh-Boulevardmagazine wie s.a.m. oder taff sendeten Berichte über die Tat, die offenbar nicht deswegen interessant war, weil ein Mensch sein Leben durch die Brutalität anderer verloren hatte.
Viel wichtiger schien zu sein, dass diese schwarz gekleideten Leute jemanden getötet hatten. Vorläufiger Höhe- bzw. Tiefpunkt war ein Bericht von Spiegel TV zum Thema, der am 15.7.2001 auf RTL ausgestrahlt wurde. Am 13.7. besuchte ein Spiegel-TV-Team die Bochumer Diskothek Matrix und drehte nach Aussagen von Augenzeugen und Beteiligten über drei Stunden lang in den Räumlichkeiten. Lange und geduldig wurden Szenegänger interviewt und das Treiben auf der Tanzfläche beobachtet. Die Matrix-Gäste und Betreiber erhofften sich nach der objektiven Berichterstattung über das Wave-Gotik-Treffen in diesem und den vergangenen Jahren gerade vom Spiegel-Ableger eine faire und gut recherchierte Dokumentation.
Als der etwa 12-minütige Bericht „Im Bann des Bösen“ ausgestrahlt wurde, war davon jedoch nichts zu spüren: Die geschickt zusammengeschnittenen Aussagen der Matrix-Besucher porträtierten nur wenige Aspekte unserer vielseitigen Szene: Melancholie und Faszination für den Tod. Die Tanzfläche wurde gefilmt, als gerade Melotrons „Tanz mit dem Teufel“ lief, und obendrein wurden Vergleiche zum Mordfall Sandro Beyer von 1993 gezogen – einer seiner Mörder, der Rechtsradikale Möbus, wurde nach seiner Haft in den USA erst kürzlich wieder nach Deutschland ausgeliefert.
Bands wie Das Ich wurden völlig zusammenhanglos bei einem Gig in Leipzig gezeigt, :Wumpscut:-Texte wurden zitiert, weil das Ehepaar Ruda Aufkleber der ?Bunkertor 7?-CD an den Autotüren hatte. Spiegel TV beendetet diese Vermischung der unterschiedlichsten Themengebiete mit einem Blick auf die Matrix-Tanzfläche und folgendem Kommentar: „Bleibt zu hoffen, dass Lucifer nicht weitere Aufträge erteilt. Gehör würde er mit tödlicher Sicherheit finden.“
Ein Aufschrei ging durch die Szene. Viele der Gefilmten fühlen sich falsch zitiert und abgestempelt. Die Hetze, die viele ältere Szenegänger noch von früher kannten, ist altvertraut. Wer anders aussieht, sich anders kleidet und möglicherweise christliche Traditionen hinterfragt, ist ein gerne genommener Sündenbock. Eine Szene, die Schwermut und Melancholie transportiert, bietet sich ganz offensichtlich als Opfer an.
Selbst Schuld?
Stefan Herwig, Inhaber des Szene-Labels Dependent Records versteht das nicht: „Da wird eine Jugendbewegung kriminalisiert und über einen Kamm geschoren. Ich finde es erschreckend, wie selektiv und manipulativ vorgegangen wurde. Die Medien haben die Realität modifiziert, nur um ihre Quoten zu bekommen.“
Alltag. Nur dass diesmal eine Jugendkultur am Pranger steht, die, wie die szeneinternen Großveranstaltungen in jedem Jahr von neuem belegen, ganz sicher eines nicht ist: gewaltbereit. Sicher würde kein Mensch die Hand dafür ins Feuer legen, dass keine Satanisten in unserer Szene leben. Der Umkehrschluss jedoch hat fatale Folgen.
Was jeder Sektenbeauftragte postuliert und der WDR schon am 13.7. zu berichten wusste, sind Gothics und Satanisten in keiner Weise gleich zu setzen ... Wie auch? Satanisten bewegen sich nach Angaben von Sektenexperten in den oberen Schichten und arbeiten in der Abgeschiedenheit. Sie praktizieren eine Religion und – auch das sollte eine gute Recherche beinhalten – Satanisten sind keineswegs zwangsläufig Mörder.
Die Gothicszene hingegen verbindet ein Lebensgefühl, das sich nicht ausschließlich, aber zu einem entscheidenden Teil über Kleidung transportiert. Ein Kleidungsstil, der übrigens inzwischen durchaus seine Spuren in der Mode hinterlässt. „Der nächste Winter, so schreibt die ‚Elle’, wird schwarz (sic!) und meint damit die Klamotten, die dann jeder haben muss.“ Das schrieb Annette aus Berlin, selbst Mutter eines „Gothic-Girls“ an die Homepage www.wavedancers.de. Sie weiß auch, dass Schwarze im täglichen Leben mit ihrer auffälligen Kleidung immernochhäufig anecken.
„Wir als Eltern sind zur Elternsprechstunde eingeladen worden, die mit der Bemerkung eröffnet wurde: ‚Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass Ihre Tochter sich verändert hat?’ Unsere Tochter wurde als potenzielles Opfer für Satanisten dargestellt, ihre Distanzierung zu einzelnen Schülern ausgelegt als ein Sich-zurück-ziehen in Todessehnsucht.“
Diese intolerante Haltung erhält durch die Berichte von Spiegel TV, Bild und Co. neue Nahrung und trägt zur Ausgrenzung einer Jugendkultur bei. Denn schwarze Gothic-Kleidung gehört offenbar ebenso wenig zur deutschen Leitkultur wie die Kopftücher gläubiger Musliminnen.
Weiter fragt sich die studierte Ethnologin Annette: „Wo sind die guten Journalisten, die sich, bevor sie solche Oberflächlichkeiten senden oder schreiben, mit der Materie beschäftigen? Es reicht schon mal, nachzuschlagen, was der Kulturbegriff ‚Gotik’ überhaupt bedeutet, der heute als ‚Gothic’ meines Erachtens nicht umsonst gewählt, kreiert oder wie auch immer entstanden ist. Die Gotik bezeichnet eine mittelalterliche, nicht nur architektonische, Kultur, die von der Abkehr oder zumindest des Infragestellens der Allmacht der christlichen Kirche geprägt ist. Vereinfacht übertragen auf das Heute: die Abkehr und das Infragestellen einer Welt, in der alles, aber auch alles kommerzialisiert wird und der Mensch mit Konsum, auch primitivem Fernsehkonsum zugeschüttet wird, um nicht zu sagen, vom Nachdenken abgehalten wird.“
Interessant bei dieser Überlegung auch der Gedanke an die Gräueltaten der katholischen Kirche im Namen des Herrn, die sich bis in unser Jahrhundert hinein zogen. Sind nun alle Christen Mörder?
Die Auswirkungen der Trivial-Berichterstattung über die Gothic-Kultur sind mehr als unschön. Der 31-jährige Matthias Cornelius, genannt Conny, seines Zeichens Keyboarder der Band Megadump, ist seit seinem siebzehnten Lebensjahr Mitglied der Schwarzen Szene und – aufgemerkt! – gläubiger Christ. Einige Tage nach dem Vorfall wurde er bei einem nachmittäglichen Kneipenbesuch mit einem Freund angepöbelt, weil er ein Kreuz um den Hals trug. Richtig herum.
Aber er trug schwarze Kleidung; möglicherweise war auch das Kreuz größer als üblich. Egal, woran es nun lag: Die Sinne der Umwelt waren geschärft; ein Vierergrüppchen konnte sich in Bochum-Wattenscheid nicht verkneifen, ihn als „Satanistenarschloch“ zu betiteln.
Kein Einzelfall. Gäste auf dem Weg zur Matrix wurden nach dem Spiegel-TV-Bericht übel beschimpft, weil sie Schuhe, Frisuren oder Kleider im Gothic-Style trugen. Auch in der Szene-Diskothek Zwischenfall standen die Telefone nicht mehr still.
„Von den Ruhrnachrichten bis hin zu TV-Sendern wollte alles und jeder eine Stellungnahme zu dem Ritualmord“, klagt Zillo-Mitarbeiter und Zwischenfall-DJ Thomas Thyssen. „Und das nur aufgrund der Tatsache, dass ich in einem Club arbeite, der sich mit Szenesound befasst. Ich habe mir jedoch jegliche Form von Kommentaren erspart, da ich nicht mehr an eine objektive Berichterstattung geglaubt habe, egal was die gewitzten Redaktion einem von Richtigstellung und 'gerade biegen' erzählen."
Apropos Zwischenfall. Seit nun mehr als 16 Jahren ist der Club in Bochum-Langendreer eine absolute Szenehochburg, die sich überall die Jahre hinweg nicht nur gegen die lokale Politik durchsetzen, sondern auch schon oftmals mit hirnrissigen Okkultismusvorwürfen auseinander setzen musste. „Jetzt kocht die Stimmung wieder hoch“, berichtet Thyssen, „Sektenaufklärungsbeauftragte haben wieder begonnen, Flyer und Infoprospekte vor dem Zwischenfall und auf den gängigen Parkplätzen rund herum zu verteilen.“
Die Probleme mit der Nachbarschaft, die sich zwischenzeitlich gelegt hatten, als sich herumsprach, dass die Gäste ein sehr friedliches Publikum sind, flammen wieder auf. Die räumliche Nähe zu Witten tut ein Übriges. Auch ausländische Bands, die durch Deutschland touren, bekommen die negative Stimmung gerade im Ruhrgebiet zu spüren. Thomas Thyssen hat es gerade kürzlich wieder erlebt: „Ende Juli spielte die amerikanische Band Diva Destruction ihren ersten und einzigen Gig deutschlandweit im Zwischenfall. Wir hatten bereits Wochen vorher Hotelzimmer für die Band in Witten gebucht; schließlich konnte ja niemand ahnen, was passieren würde. Als wir die Band vom Flughafen abgeholt haben, um danach in Witten einen Happen essen zu gehen, wurden die Amis regelrecht angepöbelt. Nicht vom Personal des Lokals wohlgemerkt, sondern von normalen Passanten und Teeniegrüppchen. Das extremere Aussehen der Amerikaner hat natürlich ihr übriges getan!"
Ein abschließendes Fazit fällt Thyssen nicht schwer: "Niemand bestreitet, dass der Vorfall wirklich schlimm und sehr tragisch war. Die plakative und oberflächliche Berichterstattung der Mainstream-Medien über die Szene ist allerdings keinesfalls zu tolerieren. Diese grausame Tat diente den Medien als gutes Mittel um das Sommerloch zu stopfen. Traurig nur, dass wieder einmal die Szene dran glauben musste, deren Einfluss auf die Entwicklung zig anderer kultureller Strömungen bis auf den heutigen Tag völlig unterschätzt wird."
Auf unsere Nachfrage und die Bitte um eine Stellungsnahme reagierten bis zum Redaktionsschluss leider weder Spiegel TV noch RTL. Auf die Bitte eines anderen empörten Spiegel-TV-Zuschauers, der eine deutlich definierte Abgrenzung von der Gothic-Szene zu Satanisten forderte, reagierte der Spiegel immerhin lapidar: „Ihre mail vom 17. Juli 2001 habe ich unter pressetechnischen Aspekten geprüft. Ich komme zu dem Ergebnis, dass keinerlei derartige Ansprüche, insbesondere nicht der auf Verbreitung einer Gegendarstellung, erkennbar sind.“
Tania Krings und Kirsten Borchardt
Quelle: Zillo